Dimension des Möglichen, 2010
Uwe Haupenthal

Anmerkungen zum Bildbegriff von Robert Bosisio


Selbst der noch so flüchtige Blick auf die Bilder Robert Bosisios hinterlässt den Eindruck ebenso malerisch begründeter wie objekt- bzw. raumbezogener Erfahrung. Eine changierende bildnerische Konstitution bestimmt diese Bilder, farbig in der Anlage, in Anbindung an die gesehene Wirklichkeit verharrend, in der Reduktion jedoch von elementarer Direktheit, einen unveräußerlichen Kernbereich thematisierend, der Atmosphäre verpflichtet und daher keineswegs von materieller Endlichkeit. Eine eigenartige, wenngleich gegenwärtige, beinahe greifbare Stille erfasst diese Bilder.
Der Umgang mit dem Realen konzentriert sich auf die Vergegenwärtigung des Gesehenen wie auf dessen prinzipiell gleichwertig erachtete und darüber hinaus zuvorderst bildnerisch begründete Vermittlung. Es ist dies eine Position, die eine prozessual vorgeführte Annäherung bedingt, in der die beiden als gegenläufig erachteten Pole der gesehenen Wirklichkeit und des gestalteten Bildes ihre angestammte widerspruchsfreie Schärfe aufzugeben haben. – „Mir ist es wichtig“, so Robert Bosisio in seinen Arbeitsnotizen, „dass meine Bilder einfach, ruhig und sachlich bleiben, dass sie in ihren Motiven oder Themen keine sozialkritische Stellung einnehmen. Die äußeren Einflüsse sollten sich einzig und allein in der Malerei widerspiegeln. Das Thema sollte versuchen, so neutral als möglich zu bleiben. Es geht nur um Malerei und um das Gefühl, welches sie vermittelt.“
Bosisio wendet sich gegen idealistische Überfrachtung zu Gunsten eidetischer Katharsis, innerhalb deren ikonografisch deutbare Inhalte weithin ausgemerzt werden. Im Gegenzug bereitet er einer konzeptuellen Verdichtung den Boden. Und diese erhebt sui generis den neuerlichen Anspruch, „die Sache selbst zu sein“. Will heißen: Fernab idealistisch qualifizierender Prämissen erzeugen Formen und Farben auf dem Bildträger wie im Auge des Betrachters eine zwar noch immer abbildlich gebundene, gleichwohl autonom konzipierte Parallelwelt, wobei von vorn herein auf expressiv vorgetragene Übersteigerung verzichtet wurde.
Landschaften reduzieren sich auf wenige Flächenpläne. Um voraussetzungslose Einsehbarkeit zu garantieren, bedingt eine solche Haltung ein strenges, zum Konstruktiven tendierendes kompositorisches Ordnungsgefüge. Der prinzipiellen Gefahr einer damit einhergehenden, unnahbaren Härte und Verschlossenheit begegnet der Maler durch den Rückgriff auf vereinzelte, in ihrer Begrenzung ungebundene Flächen, die beispielsweise eine Baumgruppe oder einen Schatten bezeichnen. Jedwede konstruktiv angelegte Vormachtstellung wird von vorn herein unterlaufen. Mitunter genügt gar eine einzige, kompositorisch gegenläufige Linie zur Herstellung kompositorischer Parität. Da zudem die geschichtete Farbgebung in ihren Tönen reduziert und in ihrem Erscheinungsbild gemildert wird, erzeugt das auf diese Weise freigesetzte Sfumato eine bildnerisch selbstreflexive, diffuse Räumlichkeit, innerhalb deren die illusionistisch motivierte Vorstellung von körperlicher Bewegung ausgeschlossen bleibt.
Gleiches gilt für die zahlenmäßig größte Werkgruppe der Innenräume. Handelt es sich in diesen Bildern doch um spartanisch eingerichtete Zimmer, in denen Tisch, Stuhl oder Bett und wenige abgestellte Gegenstände wiederum in einen strengen räumlichen Kontext gebracht werden. Dabei entsteht nicht selten der Eindruck, als erzeugten diese Wohnutensilien die betont zentralperspektivische Bildanlage. Doch auch die daraus abgeleitete, augenfällig konstruktive Komposition wird durch einzelne, verstreut angeordnete, mitunter nicht näher bestimmbare Objekte, vor allem aber durch geöffnete Türen sowie durch einen flächigen Farbauftrag unterminiert. Offenbar hat dieser in bestimmten Partien seine angestammte lokalfarbige Gebundenheit gänzlich vergessen. Gleiches gilt im Übrigen auch für die Schattenführung, die illusionistische Gesetzmäßigkeiten gelegentlich durchbricht und in bestimmten, oft eher randständigen Zonen eigenartige, eher zufällig anmutende, fleckartige Formen ausbildet.
Die Werkgruppe der Stillleben hingegen besticht durch die darin sukzessive vorgetragene, fleckartig-informelle Formauflösung. Vormalig vollständige wiedergegebene Objekte, Krüge, Kannen oder Teller mit darin aufbewahrten Fischen erscheinen einmal mehr als partiell ungebundene Malerei, die sich jedoch noch immer gegen einen klaren und konstruktiv bestimmten Bildaufbau behaupten muss. Was in diesem Zusammenhang vor allem zählt, ist die nunmehr aus der Nähe abgeleitete, visuell überbordende Präsenz des Motivs. Resultiert letzteres doch nunmehr aus der Relation zwischen semiotisch gebundener Form und einem, zunächst in Teilen, später mehr oder weniger freien Arrangement der Farbe. Gegenständlichkeit und lokale Textur, überhaupt die alles absorbierende Erfahrung von Licht und Schatten erheben den prinzipiell vorgetragenen malerischen Anspruch einer konzeptuellen Neubegründung der Gattung des Stilllebens.
Auffallend wenige Figuren finden sich in Robert Bosisios Bildern. Gleichwohl bezeugen sie, mitunter auch nur als Schatten, eine das Werk als Ganzes durchdringende Melancholie. Lassen auch die Innenräume auf die Anwesenheit ihrer Bewohner schließen, so sparen sie das Moment einer durch aktive Handlung bestimmten räumlichen Besetzung weithin aus. Im Gegenzug breitet sich eine symptomatische Verhaltenheit aus, die den Blick auf die Räume als Ganzes wie auf die darin enthaltenen Details gleichsam an ihrer Oberfläche bindet. Da alles gleichermaßen und ohne zeitliche Staffelung präsent ist, entziehen sich diese Räume nicht nur dem Betrachter, sondern sie betonen zugleich ihre konstruktive wie ihre fleckhaft-malerische Offenheit als entscheidendes, weil übergeordnetes bildnerisches Kriterium.
Bosisios Räume weisen eine bipolar angelegte Konstitution aus. Die realen Bezüge korrespondieren mit einer bildimmanent erzeugten und autonom verfassten, folglich prinzipiell gleichwertig erachteten Auffassung. Es ist dies im Übrigen eine progressiv verfolgte Bildstrategie: Bosisios Themenspektrum erfährt in den letzten Jahren eine weitreichende Auflösung der Bildformen. Diese erscheinen nunmehr allenfalls in summarisch-schattenhafter Wiedergabe. Dabei ist es zuvorderst die diffuse Lichtstreuung, die eine substanzielle Aufzehrung des Materiellen bewirkt und dem in früheren Bildern bereits angelegten All-over zum kompositorisch bestimmenden Durchbruch verhilft. Gleichwohl wahrt Bosisio noch immer die Bindung an die gesehenen Wirklichkeit.
Eindringlich beschränken sich Landschaften nunmehr zuvorderst auf die horizontale Aufteilung der Bildfläche. Von Belang ist die farblich austarierte Bildanlage, in der es zu differenziert vorgetragenen Modulationen kommt, die ebenso der Erfahrung einer nicht länger fassbaren, weil unbegrenzten Weite das Wort reden wie sie das Abbildliche in seinem Erscheinungsbild intensivieren. Größenverhältnisse bleiben im Ungewissen. Kategorisch werden die Erfahrungen des Haptischen und des Tektonischen ausgeschlossen. Die verbindliche Beschreibung von Oberflächentexturen hat ihre angestammte Gültigkeit verloren. Mit anderen Worten: Trotz der Bindung an die Wirklichkeit beschreiben diese Bildern eine Art „Zwischenraum“, der weder emotional noch rational eindeutig bestimmbar ist. Der Betrachter blickt in eine Welt, in der sein eigenes Körpergefühl nicht länger dem Anspruch einer verbindlichen Richtschnur genügen kann.
Die Erfahrung des Wirklichen bezeugt die gleichermaßen unmittelbare wie unverstellte transzendentale Erfahrung , wofür Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft das entscheidende und nach wie vor gültige ästhetische Konstrukt lieferte, indem er zwischen empirisch-möglicher Erfahrung und den durch reflektierenden Rückschritt gewonnenen, allgemeinen Konstitutionsprinzipien unterschied. Das in Robert Bosisios künstlerischen Schaffen zentrale Motiv des Raumes etwa beschrieb Kant als „eine notwendige Vorstellung, a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden. Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinung, und nicht als eine von ihnen abhängige Bestimmung angesehen […]. Der Raum ist kein diskursiver, oder, wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt, sondern eine reine Anschauung.“ .
Intensiver noch als in seinen Landschaften, nähern sich Bosisios Innenräume einer transzendentalen Erfahrung an, zumal sie durch eine zunehmend einfache geometrische Struktur bestimmt sind. Geometrie aber, so Kant, „ist eine Wissenschaft, welche die Eigenschaften des Raums synthetisch und doch a priori bestimmt“.  
In diesem Sinne weisen Bosisios Raumbilder eine elementar-einfache, vielfach auf komplementären Kontrasten aufbauende Struktur aus. Diese beschränkt sich auf die Konstellation von Wand, Tür- bzw. Fensteröffnung sowie Bodenfläche. Mitunter kann dieses Gefüge innerhalb der Bildfläche freigestellt werden, wodurch der Eindruck eines allgemeinen, weil abbildlich ungebundenen Kontextes erreicht wird. Da die durchdringende Apodiktik dieser geometrischen Verfasstheit vor allem jedoch durch das Sfumato des Farbauftrages aufgeweicht wird und sie dadurch ihre Schärfe verliert, bekennt sich Bosisio noch immer zum Moment des Sinnlichen, so als atme der Raum die emotional bestimmte Anwesenheit des Betrachters ein, wenn auch nicht ohne mentale Belastung! Hat doch die materielle Wirklichkeit ihre in der Renaissance initiierten illusionistischen Sicherungen einmal mehr verloren. Abbildliches unterliegt folglich der latenten Gefahr seiner Auflösung. Ihr wird einzig durch die strukturale Geometrisierung Einhalt geboten. Ein Konfliktpotential jenseits anekdotischer oder gestisch vorgetragener Momente, das keineswegs überwunden werden kann, wenngleich gerade daraus eine zwingende, weil transzendental begründete, d. h. gegenüber der Möglichkeit von Erfahrung prinzipiell offene, bildnerische Kraft erwächst.
Trotz aller Schematisierung evoziert Robert Bosisio in seinen Bildern sinnliche Ausstrahlung. Dies geschieht einerseits, um deren tatsächliches, weil autonomes Erscheinungsbild zu forcieren, andererseits jedoch auch, um sich noch einmal der gesehenen Wirklichkeit zu vergewissern. Zweifelsohne ein kraftraubender Balanceakt, dessen Kehrseite auf eine melancholisch anmutende Grenzenlosigkeit verweist, innerhalb deren es nicht länger eine als verbindlich erachtete Rubrizierung zwischen Sinnlichkeit, Gemüt und Verstand, zwischen Erfahrung, Empfindung und abstrahierender allgemeiner Vorstellung geben kann.
Bosisios letzte figurale Bilder sprechen diesbezüglich eine eindeutige Sprache. In wolkiger Auflösung oder als ein schematisierender, weil konturbeschränkter helle Aussparung in dunklem Umraum schauen diese Figuren nach Innen und bezeugen mit dieser Haltung eine anrührende, weil sensibilisierende Offenheit gegenüber den eigenen Emotionen wie gegenüber dem äußeren Erscheinungsbild. Es ist dies ein melancholischer Zustand, der jedoch kaum bedrohlich wirkt oder gar den Zustand eines krankhaften Leids bezeichnet, sondern der weit mehr für eine individuell begründete, sensibilisierende Erfahrung von Wirklichkeit einsteht.
Indem Robert Bosisio die Grenzen zwischen Innen und Außen, zwischen gesehener und emotional erfahrener Welt aufhebt, vertauscht er einmal mehr deren Vorzeichen. Er strebt nach einer neuerlichen Verschmelzung der transzendentalen Ebenen und reiht sich damit unversehens in den ewig jungen Bund der Romantiker ein. – „Wir träumen von Reisen durch das Weltall“, so Novalis im Blütenstaub, „ist denn das Weltall nicht in uns. Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht. - Nach innen geht der geheimnißvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich.“  


i    Zit. nach Südtiroler Kulturinstitut, Bozen und Walther-von-der-Vogelweide-Stiftung, München (Hrsg.), Robert Bosisio. Malerei, Bozen 1995, o. Sa.
In seinen Arbeitsnotizen bemerkt Bosisio mit lakonischer Knappheit: „Ich möchte die Realität transzendieren.“ – ebenda o. Sa.

ii   Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd. 1, hrsg. von Wilhelm Weischedel. In: Immanuel Kant. Werkausgabe, Bd. III, Frankfurt/M. 1988, S. 72 f.

iii   Ebenda. S. 74

iv   Novalis, Vermischte Bemerkungen / Blütenstaub (1797/98). Zit. nach Novalis, Das philosophisch-theoretische Werk, hrsg. von Hans-Joachim Mähl. In: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Darmstadt 1999, Bd. 2, S. 233