JENSEITS DES HORIZONTS … , 2007
Wim Wenders

Es gibt viele Gründe, warum ich mich glücklich schätze.
Hier sind zwei davon …

Eines der ersten Dinge, die ich sehe, wenn ich morgens die Augen öffne,
ist ein relativ kleines, ungerahmtes Bild,
auf dem eine Landschaft ohne jegliche Details dargestellt ist.
Da ist eine weiche Horizontlinie, (ist da eine?)
da ist ein Sonnenuntergang, (oder ein Sonnenaufgang?)
da ist das Land davor, (wirklich?)
da ist der Himmel darüber, (vielleicht?)
aber gleichzeitig ist nichts von alledem wirklich dort.
Man könnte es auch als vollständig abstrakte Malerei bezeichnen,
mit waagerechten Farbstreifen.
Die Tiefe dieser Farben jedoch,
ihre Struktur und eigenartige Nebelhaftigkeit,
sowie auch das Licht, das über diesen „Horizont“ strahlt,
und die gesamte “Erfahrung”, die sich in dieser zarten Leinwand verdichtet,
macht es zu eben diesem:
dem Bild eines beruhigenden, warmen, stillen,
unbekannten, weitentfernten und entrückten Ortes auf Erden.
Ja, das ist eine Landschaft!
Aber man kann nicht hingelangen.
Niemand ist jemals dort gewesen
und auch ein leidenschaftlicher Reisender wie ich könnte es nicht,
außer über dieses kleine Bild.

Wieder schätze ich mich glücklich,
wenn ich abends nach Hause komme,
auf dem Sofa sitze und durch die Tür auf meiner Wohnzimmerwand einen
wunderbaren, weit offenen Raum bestaune.
Gut, ich sehe nicht durch eine richtige Tür,
sondern natürlich auf das Bild einer Tür.
Und dennoch führt sie mich hinaus aus meiner Wohnung,
hinaus aus meiner Stadt,
weg von meinen (und jedermanns) Sorgen
in eine fabelhafte Traumlandschaft,
einem anderen Horizont entgegen.

Dies ist eine leuchtend rote Tür!
Draußen ist dunkles Grün (Gras?).
Sonnenlicht strömt nach innen und auf den Boden
und wirft einen scharfen Schatten.
Sogar mitten in der Nacht
fühle ich die Wärme der Sonne!
Und mein Sofa scheint zu einem Teil dieses angenehmen Raums zu werden.

Man könnte jetzt wieder sagen: “Hier gibt es keinen Raum”,
kein “Drinnen” und keine “Tür”,
und natürlich weder eine “Landschaft” noch ein “Draußen”,
es ist alles nur gemalt.
Wenn es das irgendwo gibt, dann nur in meinem Kopf.

Aber ich weiß es besser.
Dieses Bild ist so sanft, so reich, so einladend,
so unendlich willkommen heißend und suggestiv,
so einfach, kompakt und bar jeden Details,
dass es tatsächlich nicht nur einfach eine Tür darstellt,
einen Innenraum oder einen Horizont.
Stattdessen sitze ich dort und betrachte die Tür und den Horizont.

Können Dinge gleichzeitig metaphorisch und konkret,
abstrakt und absolut wirklichkeitsgetreu sein?
Wie malt man die “Essenz” einer offenen Tür,
die den Blick auf eine idealisierte Landschaft freigibt -
wobei ein fast göttliches Licht in den Raum strömt –
die aber dennoch ihre physische Präsenz bewahrt?
Ja, diese rote Tür empfindet man als so echt und solide,
dass ich nicht verwundert wäre, wenn sie sich plötzlich in der leichten von
draußen hereinwehenden Nachmittagsbrise bewegen würde.

Ich schließe meine Augen und kann das Bild immer noch sehen…
All die Horizonte, auf denen immer mein sehnsüchtiger Blick lag,
sind hier auf dieser Leinwand vereint.
Ist alles “aus der Erinnerung” gemalt,
dann sind auch meine Erinnerungen darin tief eingeprägt.
(Vielleicht kann man es erraten:
Der Horizont ist mein “Lieblingsort” auf Erden.)

Ich öffne meine Augen und schaue wieder auf Robert Bosisios Bild.
Ich glaube, dass nie zuvor jemand “den Horizont” so auf eine Leinwand brachte
wie er.
Wie hat er es nur geschafft, etwas abzubilden,
das gleichzeitig so konkret und so vergänglich ist?
Mir scheint, dass niemand bisher diesen Gegensatz so genau erfasst hat!
Wenn wir kurz darüber nachdenken:
der Horizont ist, per Definition, unerreichbar.
(Kein Wunder, dass ich ihn so sehr liebe…)
Wenn man auf ihn zugeht, bewegt er sich von einem fort!
Nur in Roberts Bildern
kommt der Horizont (und die Sehnsucht danach) endlich zur Ruhe.
Friede und Stille umgeben uns.

“Schönheit liegt im Auge des Betrachters.”
Wir alle kennen diesen Aphorismus und stimmen ihm zu,
aber haben wir nie darüber nachgedacht, wie sehr er auf den Horizont zutrifft?
Deine Augen erschaffen den Horizont!
Man ändert seinen Standpunkt,
und er verändert sich mit.
Man geht auf ihn zu
und sein dauernd wechselndes Aussehen, macht einen verrückt.
Gibt es etwas Flüchtigeres,
das wir aber gleichzeitig für eine Selbstverständlichkeit halten?

Robert zeigt diese beiden Aspekte des Horizonts:
wie wirklich und unerbittlich er uns erscheint,
wie wichtig es uns aber ist, ihn vor uns zu sehen
und wie ausweichend, fiktiv und flirrend er wird,
sobald man ihn zu erreichen wünscht.

Dasselbe gilt für diese Türen, die er immer wieder malt.
Sie führen nach außen,
und wir sehen flüchtig, was draußen ist.
Seine Türen machen uns das Außen bewusst,
während sie uns gleichzeitig fest im Innern verankern.
“Das Innere schaut nach Außen…”

“Sehnsucht” ist der deutsche Begriff,
der Roberts Malerei genauestens definiert.
“Longing, yearning, craving, aching, desiring…” - sind die englischen
Bemühungen, ihn zu übersetzen.

“Vor einer Tür stehen” -
das ist unsere Position vor allen Bildern,
“den Horizont betrachten” unser existentieller Standpunkt beim Betrachten jeder
Kunstform (des Lebens?).

Das ist es was Robert Bosisio malt:
Unsere Einstellung zur Kunst,
unsere conditio humana als Träumer.
Er bannt unser innerstes „Sehen“ auf seine Leinwand,
auf eine Art, die es uns erlaubt, ganz neu zu definieren,
was wir von der Malerei erwarten
und warum wir sie so lieben (und brauchen).

Er tut das scheinbar ohne großen Aufwand,
mit einer unglaublich reichen Struktur,
mit einer gewagten Farbpalette,
(als ob er einfach ganz allein ein paar neue Farben erfunden hätte),
mit tiefgründigen Streifen und Fokusverschiebungen,
die wir vielleicht noch lernen müssen zu unterscheiden.
(Haben uns nicht all die großen Werke Dinge über die Wahrnehmung gelehrt,
die wir nicht besaßen, bevor wir sie sahen?)

Wie ich schon sagte.
Ich schätze mich glücklich
Am Morgen kann ich seinen Horizont bewundern
und am Abend durch seine Tür gehen…
Ich spüre, dass es nichts gibt, was derzeit meine Augen mehr trösten (und
heilen) kann
als mit den Augen eines Malers zu sehen.
Danke, Robert.


Bosisio Wenders