VANISHING POINT, 26 Settembre 2014
Laura Schmidt

Das Motiv der Einladungskarte zu dieser Ausstellung zeigt die fotografische Aufnahme eines Ateliers. Unsere Augen bewegen sich in diesem Raum auf sicherem Terrain: Wir erkennen ganz deutlich Malutensilien und können so die verschiedenen Arbeitsprozesse eines Malers erahnen. Es ist ein sehr intimer Blick, den uns Robert Bosisio auf den Ort seines künstlerischen Schaffens gewährt.

An der zentralen Wand des Raumes hängt eine seiner großformatigen Arbeiten an der er zuletzt gearbeitet hat. Je länger wir diese Raumsituation betrachten, desto stärker wird das ungewisse Gefühl einer Irritation. Das Bild im Bild entzieht sich einer konkreten Sichtbarkeit.
Es ist ein zartes Bild. Zart, weil sich nur ganz schemenhaft ein Portrait in sanft nuancierten Blau-, Grau-, leichten Ocker- und Weißtönen vor unseren Augen zusammenfügt. So sehr wir auch versuchen, nach dem Gesicht zu greifen, es bleibt in seiner Unschärfe so vage, als würde es weit hinter einer Eisschicht zerschmelzen. Wir wollen uns dem Dargestellten nähern, aber je mehr wir von den zirka acht Metern Distanz zum Bild überwinden, desto mehr löst sich alles Gegenständliche auf.
Der Raum wird zu einer Vielzahl vibrierender Flächen, die sich gegenseitig aufladen und mitreißen. Ganz aus der Nähe betrachtet, erkennt man einen komplexen Mikrokosmos von unzähligen Farben, Schicht um Schicht in feinen Lasuren aufgetragen. So sehr wir uns in diesem pulsierenden Raum verlieren, treten wir wieder zurück, verschwimmt  der Mikrokosmos wieder in einer Unschärfe. Treten wir noch weiter zurück, fügt sich die Gestalt wieder schemenhaft zusammen.

In anderen Bildern fügt Robert Bosisio außerdem Unterzeichnungen und Raster hinzu, experimentiert mit Materialien wie Asche und Wachs. Dabei haben sich seine Interieur- und Raumansichten, seine Landschaften, Portraits und Studien in den letzten Jahren immer mehr einer diffusen Abstraktion zugewendet.

Eine formale Erläuterung oder Kategorisierung von Robert Bosisios Werk scheint mir an dieser Stelle müßig. Viel mehr sollten wir uns mit dem auseinandersetzen, was ihn beschäftigt: Er möchte uns zu einem bewussteren Sehen auffordern!

Während unsere Alltagswahrnehmung von materiell nicht greifbaren Technologien geprägt ist, unsere Wirklichkeit von visuellen Reizen überflutet wird und wir uns mit dieser täglichen Bilderration arrangieren müssen, sind Robert Bosisios Bilder eine Kur ästhetischer Stille.

Er bietet uns die Möglichkeit, uns mit viel Geduld und Langsamkeit unserer Erfahrung visueller Wahrnehmung zu stellen: Es geht nicht nur darum, Gesehenes zu erkennen, sondern um das Sehen selbst. Die Reflexion soll durch den Reflex, die Idee und Erinnerung durch Empfindung herbeigeführt werden.

Wenn wir uns Zeit nehmen für dieses Innehalten, entsteht zwischen uns und der Leinwand ein rhythmisch bewegter Raum: Wir nähern und entfernen uns, wir blinzeln, und wir versenken uns in diesen Raum – ins Nirgendwo und gleichzeitig überall hin.

Das Licht ist die gestaltende Kraft. Die Farbe ist die Kraft des reinen Pigments. Sie ist losgelöst von der Bindung an einen konkreten Gegenstand, ist keine Oberflächenfarbe, sondern Lichtfarbe. Die Bilder sind in dieser Reduktion Fläche und Raum gleichermaßen. Wir vermessen die Tiefe dieses Raumes und zeichnen seine Bewegung mit unseren Augen nach.  

Otto Piene schrieb, dass körperhafte Formgebäude verabschiedet werden können und an diese Stelle der artikulierende Rhythmus, „der Puls der Farbe“ tritt. Das trifft auch auf Robert Bosisios Bilder zu. Je nach Blickeinstellung und -zeit sind sie offen und weit, die Farbräume sind Kraftfelder, die nah oder fern oder in Auflösung begriffen sind. Je nachdem, was der Betrachter im Bild fixiert, dehnen sich diese Felder aus oder ziehen sich zusammen. Durch diese gegensteuernden, sich gegenseitig aber auch bedingenden Effekte atmen die Bilder. Wir befinden uns in einem undefinierbaren Zwischenraum. Die Oberfläche wirkt entmaterialisiert. Es entsteht der Eindruck des Schwebens und des Pulsierens. Alles scheint leicht.  In der optischen Mischung von Farbe, Licht und Schatten verdichtet sich das Bild zu einem poetischen raum-zeitlichen Kontinuum.  

Die Intensität des aus dem Bild Sprechenden, seine sich über den Bildrand hinaus ausbreitende Energie ist etwas im Betrachterauge Provoziertes und hängt vom Akt des Beschauens, hängt von uns ab.

Ein kleiner Rest geheimnisvoller Bosisio bleibt dabei immer zurück und mit ihm der Zauber einer Hoffnung und Mahnung, dass in unserer Welt noch nicht alles verschwunden ist. Es ist alles noch da, wir müssen nur ganz genau hinschauen.

„Malen ist eine andere Form des Denkens“ hat Gerhard Richter einmal gesagt. Malen heißt sehen. Sehen heißt auch betrachten. Betrachten heißt, Körper, Augen und Geist auf etwas in Bewegung zu setzen. Wenn es uns berührt, halten wir inne und lösen uns in dieser Begegnung auf.

Bitte nehmen Sie sich heute Abend dafür Zeit.

Ich bin mit Farbe erfüllt, vom Licht berauscht – ich atme, ich pulsiere und ich bin berührt. Ich bin voller Dankbarkeit, lieber Robert, für diese Momente voller Poesie und Freiheit, dein Geschenk an uns.